Ihre Spezialitäten-Metzgerei

 im Ländle

Der Tanzlehrer im Schlachthof

Es ist kalt und dunkel als Hartmut Hagen sich auf den Weg macht. Doch er ist fest entschlossen. Er will wissen, wie es in einem Schlachthaus einer handwerklichen Metzgerei aussieht. Er will sehen, wie geschlachtet wird.

Hartmut Hagen ist Tanzlehrer. Er nimmt das Leben ganz gerne von seiner leichten Seite. Um seine Ernährung hat er sich nie besonders gekümmert. Es gab einfach keinen Grund, ihm ging es immer gut. Die paar Pfunde zu viel auf den Rippen, haben ihn nie gestört. Die darf man sich als Mann im besten Alter schon mal erlauben, hat er sich gesagt. Er hat gegessen, was ihm schmeckte, das Gläschen Wein oder auch mal ein Bier, hat er sich nie verboten. Eins hat er sich allerdings dann vor zwei Jahren verboten, das Rauchen. Und damit fing alles an.

Das Haus der Metzgerei Siegle ist bereits hell erleuchtet. Es ist fünf Uhr dreißig. Im Ladengeschäft wird fleißig geräumt. Der Tanzlehrer kennt die Siegles. Sie kommen zu ihm in die Tanzschule. Jeden Mittwoch. Es ist ein nettes, freundschaftliches Verhältnis. Genauso wird er begrüßt. Ein freundschaftliches Guten Morgen und ein fester Händedruck von Metzgermeister Frank Siegle lassen das Vorhaben beginnen. Der Jungbulle, der heute geschlachtet wird, steht noch im Stall. Der Landwirt aus dem Nachbarort hatte ihn gestern schon angeliefert. Die Nacht hat er bei Siegles im Stall verbracht. Mit einer Augenblende wird er ins Schlachthaus geführt. Die Blende soll zur Beruhigung beitragen, dabei ist das Tier völlig ruhig und entspannt. Aber nichts soll es ablenken, oder aus der Ruhe bringen. Das dient auch der Sicherheit des Metzgers, der das Tier führt. Aus dem Fußboden des Schlachthauses ragt ein Eisenring, durch diesen wird das Seil gezogen an dem der Bulle geführt wird. Sollte das Tier unruhig werden, was in einer solchen Situation durchaus passieren kann, könnte man es durch schnelles Ziehen am Seil in die Knie und auf den Boden zwingen. In einem Raum mit einem wilden Bullen zu sein, wünscht sich auch kein Metzgermeister. Aber fast jeder hat genau das schon erlebt. Frank Siegle setzt den Bolzenschussapparat an die Stirn des Tieres und drückt ab. Das Tier sackt zusammen.

Die Idee, sich das Schlachten einmal aus nächster Nähe anzuschauen, hatte Hartmut Hagen vor zwei Wochen. Die Siegles hatten zu einer Backstage-Führung in ihre Metzgerei eingeladen. Man konnte seinen eigenen Fleischkäse machen, sich die Produktion anschauen, bekam alles erklärt und gezeigt. Hartmut Hagen hat das fasziniert, diese handwerkliche Wurstproduktion, dieses enorme Fachwissen mit dem die Siegles referierten, diese Begeisterung, mit der hier gearbeitet wird. Aber dann wollte er es wirklich von Anfang an sehen, wollte sich selber bewusst machen, dass ein Tier sterben muss, damit die leckere Bratwurst auf dem Grill oder in der Pfanne landet. „Wir vergessen das, wir blenden das aus, nur deswegen lässt unsere Gesellschaft massenhafte Tierquälerei zu.“ Er kennt das Schlachten nur von Bildern aus dem Fernsehen, die stammen immer aus der Industrie, immer wird die Massentierhaltung und Massenschlachtung gezeigt.  Jetzt steht er früh morgens in einem Handwerksbetrieb und vor ihm liegt ein bewusstloses Rind. Nur ein einziges, mehr werden heute nicht geschlachtet.

Noch ist es nicht tot. Das Hirn ist jedoch so weit geschädigt, dass das Tier nicht mehr bei Bewusstsein ist. Das Schmerzempfinden ist ausgeschaltet. Alles geht jetzt blitzschnell. Die Handgriffe sitzen. Spätestens 60 Sekunden nach dem Bolzenschuss muss die Hauptschlagader durchtrennt sein und das Entbluten beginnen. Erst dann wird das Gehirn nicht mehr durchblutet und der Tod tritt ein. Die Tierschutzvorschriften sind streng. Die Tierärztin ist immer anwesend und überwacht das Schlachten. Auch jetzt. Der Personalaufwand ist hoch. Ein geschlachtetes Tier, eine Tierärztin, ein Metzgermeister, ein Metzger mit Schlachterlaubnis. Bezahlen muss das alles der Betriebsinhaber. Es wundert nicht, dass es kaum noch selbstschlachtende Metzger gibt.

Die Metzgerei Siegle ist ein Traditionsbetrieb. Das Gebäude an der heutigen Stelle wurde 1960 gebaut, seit dem läuft der Metzgereibetrieb hier. So, in dieser klassischen Form, längst eine Seltenheit. Vom Vater an den Sohn übergeben. Vererbtes Handwerk, vererbte Verantwortung. Respekt vor dem Tier und dem Produkt ist alles, was zählt. Streben nach Profit passt nicht in diese Welt.

Als Hartmut Hagen vor zwei Jahren die letzte Zigarette geraucht hatte, fing alles an anders zu schmecken. Es war wie eine Offenbarung. Welche Genüsse waren ihm in den vielen Jahren als Raucher entgangen. Plötzlich war alles viel süßer, viel salziger, viel intensiver. Aber Essen wurde auch irgendwie zum Problem. Vorher hatte er alles essen können. Doch ohne Nikotin im Körper erschienen Burger, Pizza und Pommes auf einmal ungesund. Nachdenken übers Essen. Hier fing es an und zwei Jahre später führte es  ihn früh morgens um fünf Uhr dreißig in einen kleinen Schlachthof im schwäbischen Bietigheim-Bissingen.

Der Kopf des Rindes wird abgetrennt. Das Rind zuckt noch. Hartmut Hagen ist irritiert. Bewegungen von einem toten Tier hat er nicht erwartet. Er fragt nach und bekommt alles erklärt. Diese Muskelzuckungen seien völlig normal. Ursächlich dafür sei das ATP, Adenosintriphosphat, der Energieträger der Zellen. Sechs Stunden dauert es ungefähr, bis das ATP komplett abgebaut sei, dann tritt die Totenstarre ein. Während der Schlachter erklärt, trennt er die Füße des Rindes ab. An den Hinterbeinen wird das Rind aufgehängt. Kurze Zeit später ist das Fell abgezogen. Den Geruch kann Hartmut Hagen gut aushalten. Nur einmal, als der Magen aus dem Rind entfernt wurde, da stieg ihm der warme und säuerliche Geruch in die Nase und darauf hätte er gerne verzichtet. Mit einem Beil wird das Rind mittig zerteilt. Das war’s. Die zwei Rinderhälften müssen nun auskühlen. In ein oder zwei Tagen werden sie zerlegt.

Hartmut Hagen hätte nicht erwartet, dass alles so schnell geht. Auch über die akkurate Hygiene hat er sich gewundert. Immer wieder wurden Messer desinfiziert, Hände gewaschen, Blut weggewischt. Als die zwei Rinderhälften da hingen, war das kleine Schlachthaus fast blitzblank. Keine halbe Stunde ist vergangen. Draußen ist es noch nicht hell. Hartmut Hagen geht die Jahnstraße hinunter und spürt plötzlich so etwas wie Respekt und Dankbarkeit. "Ein Tier muss sterben, damit wir Fleisch essen. Das sollte man nicht ausblenden."

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Der Artikel erschien am 1. Juni 2015 in der Ludwigsburger Kreiszeitung | Autorin: Sandra Schröder | Foto: Doris Siegle